Gesetzesänderung

19.05.2022

Technische Regeln als "vorgezogene Gefährdungsbeurteilungen"

Aus der Praxis erhalten wir sehr oft den Hinweis, dass die Gefährdungsbeurteilung viel Aufwand und Mühe macht. Wir sind der Ansicht, dass dieser Aufwand überschätzt wird. Häufig wird übersehen, dass bei einem gesetzlich oder untergesetzlich geregelten Sachverhalt keine Gefährdungsbeurteilung erforderlich ist, wenn nämlich ein Sachverhalt geregelt und eine Rechtsfolge dazu bestimmt ist, hat der untergesetzliche Normgesetzgeber verbindlich festgelegt, dass erstens eine Gefahr für ein geschütztes Rechtsgut von dem Sachverhalt ausgeht und zweitens wie diese Gefahr durch die geregelte Schutzmaßnahme in Form einer Rechtspflicht abzuwenden ist. Der Normgesetzgeber hat in allen Fällen der gesetzlich geregelten Sachverhalte verbindlich festgelegt, ob der Sachverhalt eine Gefahr für ein Rechtsgut darstellt und wie diese Gefahr durch die Rechtspflicht abzuwenden ist. Technische Regeln haben den Charakter „vorgezogener Gefährdungsbeurteilungen“.

Das bedeutet, die jeweiligen Fachkreise haben sich mit einem Thema intensiv befasst und die Gefährdungsbeurteilung erstellt, Schutzmaßnahmen in Form von Rechtspflichten gegen diese Gefährdung entwickelt und diese in einem Abstimmungsprozess als Technische Regel verbindlich festgelegt. Die Fachleute in den jeweiligen technischen Ausschüssen bieten mit der technischen Regelung und der damit verbundenen Rechtspflicht eine Lösung an. Der für die Gefährdungsbeurteilung Verantwortliche muss diese Lösung nutzen. Er kann davon ausgehen, dass die arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse berücksichtigt wurden. Die Gefährdungsbeurteilung begründet durch Rückschlüsse aus gesetzlichen und untergesetzlichen Regelungen eine Vermutungswirkung für legales Verhalten.

 

In den Verordnungen wird von den Verfassern der Technischen Regeln mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass diese Regeln anzuwenden sind. Als Beispiele gelten, § 4 Abs. 3 BetrSichV, § 7 Abs. 2 GefStoffV und § 8 Abs. 5 BioStoffV. Mit der Einhaltung derTechnischen Regeln nutzt der Anwender das Fachwissen und die gebündelte Kompetenz der beteiligten Fachkreise. Hält der Verantwortliche die Technischen Regeln ein, kann er davon ausgehen, dass das Risiko zutreffend erfasst und die Rechtspflicht eine wirksame Abwehrmaßnahme darstellt. Die untergesetzlichen Regelwerke sind als Hilfsinstrumente zu verstehen, die von Fachleuten erstellt und allgemein als akzeptierte Hilfen für den Normadressaten eingesetzt werden können. Existieren Technische Regeln, Unfallverhütungsvorschriften und sonstige untergesetzliche Regelwerke, empfiehlt es sich dringend, die Regeln anzuwenden und von einer eigenen zusätzlichen Gefährdungsbeurteilung abzusehen, es sei denn das Risiko und die Abwendungsmaßnahmen werden offensichtlich falsch beurteilt, was nur in Ausnahmefällen anzunehmen ist.

Es bleibt das Problem, zu einzelnen Sachverhalten aus dem Unternehmen die einschlägigen untergesetzlichen Regelwerke zu finden. Dazu ist auf die Datenbank „Recht im Betrieb“ hinzuweisen, die komfortable Recherchemöglichkeiten bietet und in wenigen Sekunden Rechercheergebnisse liefert. Unsere Datenbank umfasst aktuell 20.399 Regelwerke im Volltext, die sich über die Listensuche leicht durchsuchen lassen. Liefert die Datenbank kein Rechercheergebnis zu einem Sachverhalt, ist erst dann eine Gefährdungsbeurteilung erforderlich. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf unsere Broschüre

„Erleichterungen und Grenzen der Gefährdungsbeurteilung
im Arbeitsschutz“

sowie auf die überzeugende Darstellung des Problems bei „Gerald Schneider: Die Gefährdungsbeurteilung, Planungs- und Organisationsumsetzung S. 92 u. 123“. Aus unserer Broschüre ist zu entnehmen, wie eine Gefährdungsbeurteilung ohne gesetzliche oder untergesetzliche Regelung nach den Vorgaben der Rechtsprechung durchzuführen ist. Behandelt wird außerdem, dass die Eintrittswahrscheinlichkeit keine Voraussetzung für die Annahme einer Gefährdung darstellt. Die Pflicht von Vorständen und Geschäftsführern zur eigenen Risikoanalyse nach der IKB-Entscheidung wird dargestellt. Grenzen der Pflicht zur Gefährdungsbeurteilung nach der Rechtsprechung zum Restrisiko werden ausführlich behandelt. Sie finden die Broschüre im Downloadbereich auf unserer Homepage.

Als überholt gilt die Gefährdungsbeurteilung nach der alten BGI 8700 (siehe Gerald Schneider, Gefährdungsbeurteilung, S. 97 und in dem Aufsatz „Wahrscheinlichkeiten bestimmen, nicht schätzen“ im Sicherheitsingenieur 8/2018 insbesondere S. 30 „Nohl oder nicht Nohl“) Im Wesentlichen wird zu Recht kritisiert, dass die Eintrittswahrscheinlichkeiten nach einzelnen Stufen multipliziert mit dem Schadensausmaß ebenfalls nach Schadensausmaßklassen nicht bestimmbar sind.

Absolute Rechtsgüter sind auch ohne Feststellung der Eintrittswahrscheinlichkeit und dem Schadensausmaßes zu schützen.

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